Ludwig van Beethoven, "Sehnsucht", Lied für Singstimme und Klavier in vier Vertonungen WoO 134 nach einem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe, Autograph
Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB Mh 33
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Klingendes Autograph
Wissenswert
Keine Zeit, mich kurz zu fassen
Unter den vielen Goethe-Vertonungen Beethovens ist "Nur wer die Sehnsucht kennt" aus "Wilhelm Meisters Lehrjahre" WoO 134 sicherlich nicht nicht die bedeutendste oder gehaltvollste. Dennoch erzählt das Autograph des Liedes viel über seine Entstehungsgeschichte und Beethovens Arbeitsweise:
Die Handschrift besteht aus zwei Doppelblättern, die entgegen der Norm nicht als Lage ineinander liegen, sondern nacheinander geheftet sind: die Seiten 1-4 bilden das erste, die Seiten 5-8 das zweite Blatt. Die erste Seite trägt noch keinen Notentext. Beethoven vermerkte hier: "Nb: Ich hatte nicht Zeit genug, um ein Gutes hervorzubringen, daher Mehrere Versuche Ludwig van Beethoven." In der Tat finden sich auf den folgenden Seiten vier unterschiedlich lange Vertonungen des selben Textes. Beethovens Notiz war keine dahin geschriebene Randglosse, sondern richtete sich an seine Auftraggeber, für die das Autograph bestimmt war. Schon auf einem Skizzenblatt, das sich ebenfalls im Beethoven-Haus befindet (HCB Mh 76) und auf dem Skizzen zur zweiten Vertonung von WoO 134 notiert sind, hielt Beethoven fest: "Es mangelte an Zeit, um dieses Lied nur einmal zu kürzen". Das Lied sollte in der literarischen Zeitung "Prometheus" erscheinen, die 1808 von Leo von Seckendorf und Joseph Ludwig Stoll gegründet worden war. Seckendorf und Stoll hatten bei Beethoven eine Goethe-Vertonung bestellt. Diese sollte als musikalischer Schmuck einem Goethe-Text beigegeben werden. Beethoven war sehr interessiert an der Mitarbeit, gleichzeitig jedoch völlig mit Arbeit überlastet: Anfang 1808 arbeitete er an der Fünften Sinfonie und der Cello-Sonate op. 69. Zwar hatte er genug Muße, vier Vertonungen des Textes zu finden und auszuarbeiten (ja, sie sogar in für seine Verhältnisse vollendeter Schönschrift abzuschreiben), sie jedoch zu einer einzigen Komposition zu verdichten, fehlte ihm wahrscheinlich der Nerv.
Seckendorf und Stoll hatten nur ein Lied bestellt - sie druckten auch nur eines, das erste. Hatten sie überhaupt alle vier Fassungen erhalten? Auf der Rückseite des ersten Doppelblattes, auf der 4. Seite (Bild 4), findet sich am rechten Rand der Vermerk der Zensur-Behörde, die mit dem üblichen "Imprimatur" das Manuskript zum Druck freigab. Diese Druckerlaubnis wurde üblicherweise auf einer Außenseite erteilt, also auf der ersten oder letzten Seite, nie jedoch im Inneren des Dokuments. Hatten Stoll und Seckenberg der Zensur nur das erste Doppelblatt mit den ersten drei Liedern eingereicht? Oder hatten sie das zweite Doppelblatt mit der vierten Vertonung von Beethoven gar nicht erhalten? Das vierte Lied ist das umfangreichste, vielleicht druckten die beiden Herausgeber es nicht, weil es noch nicht abgeschlossen war? Wir wissen es nicht. Mit einigen Jahren Abstand wurde Beethoven den vier Vertonungen gegenüber gelassener, weniger selbstkritisch: 1810 ließ er sie alle vier in einer Ausgabe beim Wiener Kunst- und Industrie-Comptoir unter dem Titel "Die Sehnsucht von Göthe mit vier Melodien nebst Clavierbegleitung" drucken. Rehabilitiert hatte er sie zwar immer noch nicht, denn er nennt sie weder "Lied" noch "Gesänge". Von "keine Zeit, mich kurz zu fassen" ist jedoch auch nicht mehr die Rede.
(Nach: Nur wer die Sehnsucht kennt. Lied in vier Fassungen (WoO 134) nach einem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe von Ludwig van Beethoven. Faksimile des Autographs mit einer Studie von Helga Lühning, Bonn 1986) (J.R.)