Mit Beethovens Ohr gehört
Ein musikalisches Hörstück über Beethovens Ertaubung
Manuskript: Martella Gutiérrez-Denhoff
Filterungen: Wolfgang Hess
Toningenieure: Hans-Martin Renz, Ernst Hartmann
CD (vergriffen):
Regie: Peter Behrendsen
Produzent: Wolf Werth
Produktion: Deutschland
Aufnahme: 9. Oktober 2002 und 30. September 2003
Eine Sendung des Deutschlandfunk vom 25. Oktober 2002
© 2003/2004 Beethoven-Haus Bonn
[1] Pastoral-Symphonie op. 68, Ende 2. Satz: Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (1:32; 1,9 MB)
" … welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung … "
Diese Worte stammen aus dem bewegendsten Dokument, das uns von Ludwig van Beethoven überliefert ist, aus dem "Heiligenstädter Testament". Beethoven schrieb dieses "Testament" am 6. Oktober 1802 an seine Brüder Carl und Johann aus dem Wiener Vorort Heiligenstadt, in dem er manche Sommer- und Herbstmonate verbrachte.
Hören wir den Anfang dieses Dokuments:
[2] Heiligenstädter Testament (2:56; 4,2 MB): "O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet, mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten dazu war ich immer aufgelegt, aber bedenket nur daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hofnung gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem überblick eines daurenden Übels (dessen Heilung vieleicht Jahre dauren oder gar nicht möglich ist) gezwungen, mit einem feurigen Lebhaften Temperamente gebohren selbst empfänglich für Zerstreuungen der Gesellschaft, muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen, wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussetzen, o wie hart wurde ich durch die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehör’s dann zurückgestoßen, und doch war’s mir noch nicht möglich den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub, ach wie wäre es möglich daß ich die Schwäche eines Sinnes angeben sollte, der bey mir in einem Vollkommenern Grade als bey andern seyn sollte, einen Sinn denn ich einst in der grösten Vollkommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn wenige von meinem Fache gewiß haben noch gehabt haben – o ich kann es nicht, drum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gerne unter euch mischte."
Beethovens Verzweiflung wird vollends deutlich in jenem Zusatz, den er vier Tage später auf der Adressen-Seite dieses Schriftstücks ergänzte:
"So nehme ich denn Abschied von dir – und zwar traurig ja die geliebte Hoffnung – die ich mit hieher nahm, wenigstens bis zu einem gewissen Punkte geheilet zu seyn – sie muß mich nun gänzlich verlassen, wie die blätter des Herbstes herabfallen, gewelkt sind, so ist – auch sie für mich dürr geworden, fast wie ich hieher kamm – gehe ich fort – selbst der Hohe Muth – der mich oft in den Schönen Sommertägen beseelte – er ist verschwunden – o Vorsehung – laß einmal einen reinen Tag der Freude mir erscheinen – so lange schon ist der wahren Freude inniger widerhall mir fremd – o wann – o Wann o Gottheit … kann ich im Tempel der Natur und der menschen ihn wider fühlen – Nie? – nein – o es wäre zu hart"
Als Beethoven dies schrieb, war er also fast 32 Jahre alt und hatte bereits seit einiger Zeit unter typischen Anzeichen seiner Gehörkrankheit gelitten: die Hirtenflöte konnte er nicht mehr hören, da er inzwischen unter anderem an "Hochtonverlust" litt. Für ihn hätte die Stelle aus seiner 6. Symphonie, die wir zu Beginn gehört haben, vielleicht so geklungen:
[3] Pastoral-Symphonie op. 68, Ende 2. Satz (gefiltert): Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (0:56; 1,0 MB)
[4] Wie es zu diesem Phänomen des Hochtonverlustes kommt, verdeutlicht ein kurzer Ausflug in das menschliche Ohr:
Jeder Ton, jeder Klang, den wir vernehmen, wird vom Trommelfell über die drei Mittelohrknöchelchen Hammer, Amboß und Steigbügel in das Innenohr geleitet. Im Innenohr, das wie eine Schnecke gewunden ist, befinden sich Hörsinneszellen, kleine Häarchen, die den Schall über den Hörnerv an das Gehirn weiterleiten. Die hohen Töne werden im vorderen Bereich der Schnecke empfangen, die tieferen weiter hinten. Sind diese Haarzellen beschädigt, können sie die ihnen zugeordneten Frequenzbereiche nicht mehr in voller Qualität empfangen und weiterleiten. Hörschädigungen äußern sich also zunächst im sogenannten "Hochtonverlust", da die für dieses Frequenzspektrum zuständigen Haarzellen des Innenohrs dem Trommelfell am nächsten liegen. Der Hochtonverlust bewirkt aber nicht nur, daß man hohe Töne nicht mehr so gut hört, eine Erfahrung, die wir alle im Laufe unseres Älterwerdens machen, sondern auch, daß das Frequenzspektrum flacher und dadurch Sprache unverständlicher wird.
Daß Beethoven sich also von der "Gesellschaft absondern" mußte lag nicht zuletzt daran, daß er Gespräche nicht mehr gut verfolgen konnte. Ein Gespräch zwischen zwei Außenstehenden muß sich für Beethoven etwa ähnlich matt angehört haben wie der nachfolgende fiktive Dialog zwischen Fürst Lichnowsky und dem Geiger Ignaz Schuppanzigh:
[5] Schuppanzigh: "Mein lieber Fürst Lichnowsky, haben Sie auch schon bemerkt, dass Beethovens Gehör immer schlechter wird?"
Lichnowsky: "Ja, mein lieber Schuppanzigh, das ist mir auch schon aufgefallen. Neulich war er bei einer Abendgesellschaft im Palais zu Gast. Zunächst nahm er an den Gesprächen noch regen Anteil, doch als heftiger und auch wild durcheinander diskutiert wurde, bemerkte ich, wie er nur noch ins Kaminfeuer blickte. Er konnte den Worten offenbar nicht mehr folgen."
Schuppanzigh: "Wenn er bei einer unserer Quartettproben anwesend ist, setzt er sich immer in die Nähe der beiden Geigen, so dass ich Acht geben muss, dass ich ihn nicht mit meinem Geigenbogen verletze."
Lichnowsky: "Musik hat der gute Beethoven ja von frühester Kindheit an im Kopf und in seinem inneren Ohr. Die wird ihm zum Glück nie verloren gehen. Aber es ist traurig für seinen Alltag. Er, der die Menschen braucht, fühlt sich von größeren Gesellschaften ausgeschlossen. Und er, der er die Natur so liebt, kann die Vögel nicht mehr hören. Und natürlich auch seine eigene Musik nur in sehr beschränktem Maße."
[6] Streichquartett f-Moll op. 95, Beginn 2. Satz (gefiltert): Amadeus Quartett (1:03; 1,2 MB)
[7] Zwei weitere Symptome plagten Beethoven zusätzlich: zum einen quälende Ohrengeräusche, die der Mediziner "Tinnitus" nennt. Es gibt viele Varianten dieser Kopf- bzw. Ohrgeräusche. Doch gleichgültig, welches Geräusch einen ständig im Ohr plagt, als unangenehm empfinden wir alle.
Tinnitusgeräusche
Ein weiteres Phänomen von Beethovens fortschreitender Schwerhörigkeit war eine Überempfindlichkeit für Schall, die bewirkt, dass Lautes als besonders und unangenehm laut empfunden wird. Der Mediziner nennt dies "Hyperakusis". Eine solche Überempfindlichkeit konnte Beethovens Schüler und Freund Ferdinand Ries beobachten: Bei der kurzen Beschießung Wiens durch die Franzosen im Jahre 1809 war Beethoven sehr ängstlich; er brachte die meiste Zeit in einem Keller bei seinem Bruder Kaspar zu, wo er noch den Kopf mit Kissen bedeckte, um ja nicht die Kanonen zu hören.
[8] Wellingtons Sieg op. 91, Beginn "Schlacht" (gefiltert): Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (0:43; 1 MB)
[9] Viele verschiedene Ärzte hatte Beethoven seit seinem 30. Lebensjahr wegen seiner Leiden konsultiert. Zu ihnen gehörte auch Dr. Johann Peter Frank. Seinem Bonner Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler berichtete Beethoven im Juni 1801 aus Wien:
"Mein Gehör ist seit 3 Jahren immer schwächer geworden, und das soll sich durch meinen Unterleib ereignet haben. Frank wollte meinem leib den Ton wieder geben durch stärkende Medizin und mein gehör durch Mandelöhl, aber prosit, daraus ward nichts, mein gehör ward immer schlechter. (…) Meine Ohren die sausen und brausen Tag und Nacht fort. (…) Um dir einen Begriff von dieser wunderbaren Taubheit zu geben, so sage ich Dir, daß ich mich im Theater ganz dicht am Orchester anlehnen muß, um den Schauspieler zu verstehen. Die hohen Töne von Instrumenten, Singstimmen, wenn ich etwas weit weg bin, höre ich nicht; im Sprechen ist es zu verwundern, daß es Leute gibt, die es niemals merkten; da ich meistens Zerstreuungen hatte, so hält man es dafür. Manchmal auch hör ich den Redenden, der leise spricht, kaum, ja die Töne wohl, aber die Worte nicht; und doch sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich."
Bereits in dieser frühen Zeit seiner Erkrankung wird Beethoven seine Musik also mit einigen Einschränkungen gehört haben: Er hatte einen Tinnitus, ein fortwährendes "Sausen und Brausen" in den Ohren. Er litt unter "Hyperacusis", hörte also Lautes ganz besonders laut, und durch den Hochtonverlust wurde für ihn der Gesamtklang matt und die Sprache wurde schwerer verständlich. All dies nimmt man heute als Anzeichen einer Innenohrschwerhörigkeit, die entweder auf eine Infektionskrankheit, oder auf eine Otosklerose – also eine krankhafte Knochenveränderung im Mittelohr – oder auf eine Apoptose – einen programmierten, in diesem Fall verfrühten Zelltod der Haarzellen im Innenohr – zurückgeht.
Seine 5. Symphonie wird Beethoven bei der Uraufführung im Dezember 1808 also vielleicht folgendermaßen gehört haben:
[10] 5. Symphonie op. 67, Beginn 1. Satz (mit Filter und Tinnitus): New Yorker Philharmoniker, Leitung L. Bernstein (2:50; 3,7 MB)
Für unsere gesunden Ohren klingt die Passage so:
[11] 5. Symphonie op. 67, Beginn 1. Satz
Mandelöl war einer der vielen Therapie-Versuche, die Beethoven im Laufe seines Lebens gegen sein Gehörleiden unternahm. Jeder Arzt verordnete eine andere Therapie, doch weder Mandelöl, noch Meerettich-Baumwolle, noch warme Donaubäder halfen.
Die Ertaubung schritt immer weiter voran. Etwa 1814/15 war Beethoven auf dem rechten Ohr bereits so gut wie taub. Zu dieser Zeit versuchte er sich mit mechanischen Apparaten Hilfe zu verschaffen. 1812 hatte er den Mechaniker Johann Nepomuk Maelzel kennengelernt, der in Wien durch seine Musikmaschinen und der Nachwelt im Zusammenhang mit dem Metronom bekannt wurde. Maelzel konstruierte für Beethoven verschiedene Hörrohre.
Vier Hörrohr-Modelle sind im Beethoven-Haus in Bonn zu sehen. Die kleineren Rohre dienten in erster Linie der Verstärkung der hohen Resonanzen, die großen der Verstärkung der tiefen Resonanzen. Wie groß die Wirkung tatsächlich war, ist schwer zu sagen.
Zeitweilig scheinen diese Apparate Beethoven jedenfalls geholfen zu haben, denn 1815 notierte er in seinem Tagebuch:
"Die Mälzlische Ohren-Maschine ist die stärkste … man müste verschiedene im Zimmer für die Musik, Sprechen und nach der Größe des Saals haben."
Aus späteren Jahren berichten Besucher Beethovens, zum Beispiel der Berliner Bibliothekar Dr. Spicker, von einer Art großem Schalltrichter auf dem Flügel:
"Leider machte sein schweres Gehör (das auch die Veranlassung zu einer an seinem Flügelpianoforte angebrachten eigentümlichen Vorrichtung war, einer Art von Schallbehälter, unter dem er saß, wenn er spielte, und der dazu dienen sollte, den Schall um ihn her aufzufangen und zu konzentrieren), daß die Unterhaltung mit ihm sehr mühselig wurde."
Wenn Beethoven zum Beispiel sein Klavierstück in a-Moll, das später unter dem Titel "Für Elise" weltberühmt wurde, jener Dame, für die es bestimmt war, vorgespielt hätte, dann hätte er dessen ersten Teil mit seinen ertaubenden Ohren ohne zusätzliche Hilfsmittel vielleicht wie folgt gehört:
[12] Für Elise (Beginn) (gefiltert): Anatol Ugorski (3:58; 4,5 MB)
Unter dem Schalltrichter oder mit einem ungefähr 20 cm langen Hörrohr blieb vermutlich immerhin noch Folgendes übrig:
Musik: Für Elise (Beginn) (gefiltert und mit Hörrohr)
Gesunde Ohren können diese Passage zum Glück so hören:
Musik: Für Elise (Beginn)
[13] Doch trotz aller Versuche Beethovens, mit Hilfe verschiedener Apparate sein restliches Hörvermögen zu verstärken, verstummte die Umgebung für den ertaubenden Komponisten immer mehr. Seit 1817 soll Beethoven nach dem Bericht seines Schülers Carl Czerny keine Musik mehr gehört haben können. Etwa seit dieser Zeit waren ihm auch zusammenhängende Gespräche gar nicht mehr möglich. Er griff zu einem anderen Hilfsmittel, den sogenannten "Konversationsheften". Wie eine solche halbschriftliche Unterhaltung mit Beethoven verlief, hatte der junge Ferdinand Hiller bei einem Besuch Beethovens erlebt und später mehrfach niedergeschrieben.
"Es ist bekannt, dass die mündliche Unterhaltung mit Beethoven zum Teil schriftlich geführt wurde, er sprach, aber diejenigen, mit welchen er sprach, mussten ihre Fragen und Antworten aufschreiben. Zu diesem Ende lagen dicke Hefte gewöhnlichen Schreibpapiers in Quartformat und Bleistifte stets in seiner Nähe. Wie peinvoll mag es für den lebhaften, sogar leicht ungeduldigen Mann gewesen sein, jegliche Antwort abwarten zu müssen. … Auch verfolgte er die Hand des Schreibenden mit gierigem Auge und übersah das Geschriebene mehr mit einem Blicke, als daß er es las."
Die überlieferten 138 Hefte, die in der Berliner Staatsbibliothek verwahrt werden, geben uns einen interessanten Einblick in Beethovens Alltag.
Beethovens Gesprächsanteile sind uns in den Konversationsheften grundsätzlich nicht erhalten, denn sein Gegenüber konnte ihn ja hören. Das Gespräch muß sich uns aus den Eintragungen der Gesprächspartner Beethovens erschließen. Dass dies gar nicht so einfach ist, zeigt der folgende Gesprächsausschnitt aus einem solchen Konversationsheft. Zu hören sind hier die Gesprächspartner, deren Worte wir heute in den Heften lesen können. Beethovens Gesprächsteile, die wie gesagt in den Heften fehlen, da er seinem Gegenüber ja redend entgegnen konnte, müssen wir erraten.
Begeben wir uns in das Gasthaus "Zum wilden Mann" in Wien, wo im September 1825 Beethovens Streichquartett in a-Moll op. 132 aufgeführt wurde. Wir treffen dort neben Beethoven den englischen Musiker George Smart und den Verleger des Quartetts, Maurice Schlesinger an.
Anstelle der Gesprächsteile Beethovens, die wir nicht kennen, erscheint ein akustisches Signal (***).
[14] Smart: "Haben Sie bei den Rezitativen der d-Moll Sinfonie an Dragonetti gedacht?"
***
"Dragonetti war nicht bei der Sinfonie, weil er zu viel für seine Mitwirkung verlangte; denn er behauptete, Beethoven habe die ganze Symphonie für ihn geschrieben."
***
"Auf Ihre Gesundheit"
***
"und ewige Fruchtbarkeit."
***
"Noch viele solche Quartetten wie das heutige, Bester, wenn Ihr wollt noch dergleichen schreiben."
***
"Quartetten, wenn auch ohne # [Kreuz] und B-Dur; Mylord wird schon spielen, so gut als er Whist spielt."
***
Schlesinger: "Ich habe gesagt, daß von Ihrem Neffen alles abhängt was Sie schreiben sollen, und Falstaff hat gesagt nein es steht bei ihm was Beethoven schreibt – "
***
Smart: "Wann soll Mephistophilos Rochlitz aus Leipzig ankommen?"
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Schlesinger: "Ich sage aber daß der Cherubini eine so große Ehrfurcht für einen gewißen Beethoven hat daß wenn man von ihm spricht seine Figur noch einmal so lang vor Aufmerksamkeit wird –"
***
"es ist ein großer Mann"
***
"Haydn hat eine Oper geschrieben betitelt der kleine Tobias"
***
"Ich habe dem Tobias gesagt heute, Beethoven wird Sie und das Paternostergessel verewigen".
[15] Bis zu seinem 48. Lebensjahr hatte Beethoven also ein kontinuierliches Abnehmen seines Hörvermögens hinnehmen müssen. Hätte er sich in dieser Zeit immer wieder, zum Beispiel alle drei Jahre, das gleiche Stück vorgespielt, zum Beispiel ein paar Takte aus seiner Pathétique- Sonate, und gäbe es darüber eine Art Hörprotokoll, so hätte dies die Ertaubung im Zeitraffer vielleicht etwa so zusammengefaßt:
[16] Klaviersonate op. 13 (Pathétique), aus dem 1. Satz (gefiltert): Rudolf Serkin (0:41; 0,7 MB)
[17] Beethoven wird sich mit seiner Situation irgendwann abgefunden haben. Musik hatte er ja seit seiner Kindheit im Kopf "gespeichert", was es ihm auch möglich machte, weiterhin zu komponieren. Deutlich hinderlicher war Beethovens zunehmende Ertaubung, wenn er als Interpret seiner eigenen Musik in der Öffentlichkeit auftrat. Als Pianist hatte er sich bereits 1814 aus dem öffentlichen Konzertleben zurückgezogen. Der Komponist Louis Spohr hatte zwischen 1812 und 1816, als er in Wien lebte, Kontakt zu Beethoven und hatte ihn in dieser Zeit auch als Pianisten seines "Erzherzogtrios" erlebt. Später berichtete er darüber in seiner Selbstbiographie:
"Ein Genuß war’s nicht; denn erstlich stimmte das Pianoforte sehr schlecht, was Beethoven wenig kümmerte, da er ohnehin nichts davon hörte, und zweitens war von der früher so bewunderten Virtuosität des Künstlers infolge seiner Taubheit fast gar nichts übriggeblieben. Im Forte schlug der arme Taube so darauf, daß die Saiten klirrten, und im Piano spielte er wieder so zart, daß ganze Tongruppen unterblieben, so daß man das Verständnis verlor, wenn man nicht zugleich in die Klavierstimme blicken konnte."
[18] Bagatelle op. 126 Nr. 2 (gefiltert): Anatol Ugorski (2:12; 2,5 MB)
Ob Beethovens Klavierspiel zu dieser Zeit wirklich schon so schlimm war, wissen wir nicht. Im kleinen Kreis hat sich Beethoven auch in späteren Jahren immer wieder ans Klavier gesetzt, meistens um zu improvisieren. So hat ihn noch im September 1825 George Smart bei seinem Besuch in Wien erlebt. Beethoven extemporierte, laut Smarts Tagebuch, "in a most extraordinary manner, sometimes very fortissimo, but full of genius". Und danach war Beethoven "plenty of jokes, in the highest of spirits".
[19] Als Dirigent seiner eigenen Werke trat Beethoven ebenfalls noch lange auf. Seine zunehmende Taubheit wirkte sich aber natürlich auch hier aus. Denkwürdig war – auch unter diesem Aspekt – die Uraufführung der 9. Symphonie am 7. Mai 1824. Der mitwirkende Geiger Josef Böhm berichtete:
"Man studierte mit dem Fleiße und der Gewissenhaftigkeit, die ein so riesiges und schwieriges Tonstück erheischte. Es kam zur Produktion. Ein glänzendes, äußerst zahlreiches Auditorium lauschte mit gespannter Aufmerksamtkeit und spendete enthusiastischen, rauschenden Beifall. Beethoven dirigierte selbst, d.h. er stand vor einem Dirigentenpult und fuhr wie ein Wahnsinniger hin und her. Bald streckte er sich hoch empor, bald kauerte er bis zur Erde, er schlug mit Händen und Füßen herum, als wollte er alle die sämtlichen Instrumente spielen, den ganzen Chor singen. – Die eigentliche Leitung war in Duports Hand, wir Musiker sahen nur auf dessen Taktstock. – Beethoven war so aufgeregt, daß er nichts sah, was um ihn vorging, daß er auf den Beifallssturm, den er freilich bei seiner Gehörschwäche kaum hören konnte, auch nicht einmal achtete. – Man mußte es ihm sagen, wenn es an der Zeit war, dem Publikum für den gespendeten Beifall zu danken, was Beethoven in linkischer Weise tat."
Ja, Beethoven konnte noch nicht einmal den tosenden Beifall wahrnehmen, ihn vor Aufregung auch nicht über den sicher stark vibrierenden Holzboden erfühlen; man mußte Beethoven umdrehen, damit er den tosenden Applaus wenigstens sehen konnte. Und von dem Einsatz des großen Chores und des vollen Orchesters bei der "Ode an die Freude" wird er bestenfalls Klang- Schatten wie diese gehört haben:
[20] 9. Symphonie op. 125, Ode an die Freude (gefiltert): Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (1:46; 2,2 MB)
Man erschrickt fast, wenn man diese Passage jetzt in vollem Klang und normaler Lautstärke hört:
Musik: 9. Symphonie op. 125, Ode an die Freude
[21] In den letzten Jahren seines Lebens schrieb Beethoven vor allem an seinen großen Streichquartetten, die in ihrer Dimension, ihrer Klangsprache und ihrer formalen Radikalität weit über das Streichquartettschaffen seiner Zeit hinausweisen. Das Streichquartett in B-Dur op. 130, das Beethoven bald nach Einzug in sein letztes Domizil im Schwarzspanierhaus vollendete, erfuhr in seiner ersten Fassung, also mit der "großen Fuge" als Schlusssatz, am 21. März 1826 seine Uraufführung. Die große Fuge ist ein in jeder Hinsicht in die Extreme gehendes Werk.
Musik: Große Fuge für Streichquartett op. 133, Anfang
Von der Aufführung wird für Beethovens Ohr jedoch vielleicht im besten Falle folgendes übrig geblieben sein:
[22] Große Fuge für Streichquartett op. 133, Anfang (gefiltert): Amadeus Quartett (1:39; 2,1 MB)
[23] Doch mit seinem inneren Ohr hat Beethoven das Quartett bei der Aufführung ganz sicher detailliert verfolgt, so wie er es auch aus dieser Vorstellung heraus geschrieben hatte. Wie konzis Beethovens klangliche Vorstellung von der Komposition war sehen wir daran, daß er mit der Bearbeitung der Fuge für Klavier zu vier Händen, die der Komponist Anton Halm im Auftrag eines Verlegers gemacht hatte, nicht zufrieden war. Sie entsprach eben nicht der klanglichen Übersetzung seiner musikalischen Vorstellungen, so dass Beethoven schließlich selbst eine vierhändige Klavierfassung der Streichquartett-Fuge anfertigte, die dann als op. 134 erschien.
Beethovens Schaffenskraft war glücklicherweise unabhängig von seinem körperlichen Leiden – das ja nicht nur sein Gehör betraf. Und was er schrieb, scheint unabhängig von der jeweiligen körperlichen Verfassung des Komponisten gewesen zu sein. In der Zeit, als Beethoven das Heiligenstädter Testament schrieb, ein Dokument großer Depression, entstanden Werke so unterschiedlichen Charakters wie die Violinsonaten op. 30, die Klaviersonaten op. 31, die Bagatellen op. 33 und Notenscherze und Tänze.
"Nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück" hatte Beethoven im Heiligenstädter Testament formuliert.
"Ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte".
Aufgelegt fühlte sich Beethoven bis zum Ende seines Lebens zu immer neuen Werken. Der neunten Symphonie wollte er eine zehnte folgen lassen. Nach Abschluss der Arbeit an den großen Streichquartetten plante er die Komposition eines Streichquintetts. 48 Takte hatte er davon bereits zu Papier gebracht bevor er starb. Diese Takte wurden als "Beethovens letzter musikalischer Gedanke" in einer Fassung für Klavier nach seinem Tod veröffentlicht. Und vielleicht spiegelt eine solche Klavierfassung ja das wider, was Beethoven sich im Kopf vorgestellt und vielleicht mit Hilfe des Klaviers überprüft hätte. Auch das hätte er ja nicht wirklich, sondern nur in seinem inneren Ohr hören können. Vielleicht etwa so?
[24] Letzter musikalischer Gedanke (WoO 62) "im Kopf": Ronald Brautigam (3:01; 3,5 MB)
Übersicht
- [1] Pastorale: Vogelstelle Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (1:32; 1,9 MB)
- [2] Heiligenstädter Testament (2:56; 4,2 MB)
- [3] Pastorale: Vogelstelle (gefiltert) Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (0:56; 1,0 MB)
- [4] Wie es zu diesem Phänomen des Hochtonverlustes kommt ... (1:26; 1,5 MB)
- [5] Gespräch zwischen Ignaz Schuppanzigh und Fürst Lichnowsky (1:03; 1 MB)
- [6] Streichquartett f-Moll op. 95, Anfang 2. Satz (gefiltert) Amadeus Quartett (1:03; 1,2 MB)
- [7] Zwei weitere Symptome plagten Beethoven zusätzlich ... (1:07; 1,2 MB)
- [8] Wellingtons Sieg op. 91, Beginn (gefiltert) Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (0:43; 1 MB)
- [9] Viele verschiedene Ärzte hatte Beethoven ... (2:04; 2,6 MB)
- [10] 5. Sinfonie op. 67, Beginn (gefiltert mit Tinnitus-Hintergrund + ungefiltert) New Yorker Philharmoniker, Leitung L. Bernstein (2:50; 3,7 MB)
- [11] Mandelöl war einer der vielen Therapie-Versuche ... (2:07; 2,4 MB)
- [12] Für Elise, Beginn (gefiltert) Anatol Ugorski (3:58; 4,5 MB)
- [13] Doch trotz aller Versuche ... (2:37; 3 MB)
- [14] Gespräch im Gasthaus (1:33; 2,3 MB)
- [15] Bis zu seinem 48. Lebensjahr ... (0:27; 0,5 MB)
- [16] Klaviersonate Pathétique op. 13, Anfangstakte (Filter 0-6) Rudolf Serkin (0:41; 0,7 MB)
- [17] Beethoven wird sich mit seiner Situation irgendwann abgefunden haben ... (1:14; 1,5 MB)
- [18] Bagatelle op. 126 Nr. 2 (gefiltert) Anatol Ugorski (2:12; 2,5 MB)
- [19] Als Dirigent seiner eigenen Werke ... (1:45; 2,3 MB)
- [20] Sinfonie op.125, Ode an die Freude (gefiltert und ungefiltert) Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (1:46; 2,2 MB)
- [21] In den letzten Jahren seines Lebens ... (Anfang große Fuge op. 133, ungefiltert) (2:23; 3 MB)
- [22] Anfang Große Fuge op. 133 (gefiltert) Amadeus Quartett (1:39; 2,1 MB)
- [23] Doch mit seinem inneren Ohr ... (2:22; 2,5 MB)
- [24] Letzter musikalischer Gedanke WoO 62 "im Kopf" Ronald Brautigam (3:01; 3,5 MB)